Der Architekt Nik Liechti kennt seine Stadt wie kein Zweiter. Mit dem «Biel Haus Index» hat er ein subjektives Rating für Immobilien im Stadtzentrum entwickelt, weil er überzeugt ist, dass die Wahrnehmung dieser Immobilien eine grosse Mitverantwortung für die Attraktivität der Innenstadt tragen. Wir haben mit ihm über ein neues Mobilitätskonzept, den Zustand der Bieler Innenstadt und das Leben am Wasser gesprochen.
Unsere Vision mag eine hohe Flughöhe haben, allerdings schätzen wir diese in der Machbarkeit als sehr realistisch ein, wenn Politik, Wirtschaft und auch die Bevölkerung wirklich etwas bewegen wollen. Sie haben die Expo02 mitentworfen, welche auch aus einer Vision entstanden ist. Wie wichtig sind solche Visionen für die Entwicklung einer Stadt?
Dass Visionen einer Stadt helfen können, sich zu entwickeln, hat man am Beispiel der Expo02 gut gesehen. Sie hat Biel aus der Lethargie gerissen. Vorher herrschte eine seltsame Depression in dieser Stadt, ein Stillstand. Dank der Expo wurde ein Autobahnanschluss gebaut, die Industrie wurde auf unseren Standort an der Sprachgrenze aufmerksam. So entwickelte sich eine Dynamik, von welcher Biel noch heute profitiert. Auch Private haben ihre Häuser saniert, weil niemand ein schlechtes Bild abgeben wollte.
Wie sieht Ihre Bilanz einige Jahre nach der Expo aus. Was hat man verpasst, wo konnte Biel profitieren?
Das kulturelle Momentum der Expo02 mit ihren Bauten und Projekten am Seeufer hat man leider verpasst. Seither herrscht eine traurige Öde am See, aber insgesamt hat die Stadt enorm profitiert. Deshalb sind visionäre Projekte enorm wichtig. Grosse Städte zum Beispiel brauchen alle 10 Jahre ein Ereignis von Weltformat. So können sie die Infrastruktur auf den neusten Stand bringen. Vor allem europäische Städte. Barcelona ist ein klassisches Beispiel, weil die Stadt sich den Zugang zum Meer dank den Olympischen Spielen erschaffen hat. Dies hatte die Aufwertung des gesamten Hafengebietes zur Folge. Ohne einen solchen Event fehlt das Geld und der Zuspruch der Bevölkerung. Auch in Biel wurde manches Projekt zur Aufwertung des Stadtzentrums dank der Expo möglich. Von Seiten der Behörden aber wurde dieser einmalige Drive kaum aufgenommen. Da wurden sämtliche Vorschläge zur Weiterverwendung von Inhalten oder Projekten abgeschmettert. Es ist immer wieder diese Angst vor Veränderungen, welche unverständlich ist.
Jetzt sind Veränderungen in der Innenstadt gefragt. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um diese wieder zum Leben zu erwecken und attraktiv zu machen?
Der Lead für eine attraktive Stadtentwicklung liegt bei der öffentlichen Hand. Sie sollte die Initialzündung machen und Anstrengungen unternehmen, um den öffentlichen Raum konkret, dauerhaft und nachhaltig aufzuwerten und Impulse zu setzen. Vor allem auch mit der Umnutzung von eigenen Objekten und Immobilien. Geht die öffentliche Hand mit gutem Beispiel voran, müssen die Privaten reagieren. Ein gutes Beispiel ist die Europaallee in Zürich. Früher eine abgeschottete Industriezone, ist es heute ein pulsierendes Stadtgebiet, mit einem idealen Mix aus attraktiven Läden und origineller Gastronomie. Wären die Ladeflächen in dieser neu entstandenen Zone nur an internationalen Ladenketten vergeben worden, würden wir heute hier nicht darüber sprechen. Das gleiche gilt für das Gebiet «Viadukt» in Zürich, mit den kleinen, lokalen Shops. Der private Immobilienbesitzer sollte in die Verantwortung genommen werden, was in Biel gänzlich fehlt. Man muss ihnen aufzeigen, welches Modell langfristig Sinn macht.
Warum scheint die Situation in Biel derart festgefahren?
Das Problem ist, dass die meisten Immobilienbesitzer der Bieler Innenstadt sich nicht mehr um ihre Gebäude kümmern. Vor 100 Jahren hätte man sich geschämt für eine verwüstete Fassade. Weil jeder wusste, wem das Haus gehört. Diese Situation hat sich völlig geändert. Darum hat mein Büro den Bieler Haus Index entworfen. Es ist eine subjektive Wahrnehmung des Zustands der Gebäude im Stadtzentrum. Wir markieren die Gebäude mit Ziffern von -4 bis 2 und bewerten so den äusseren Zustand der jeweiligen Liegenschaft, wie man ihn als Passant wahrnimmt. Häuser mit der Bewertung -4 sollte man abreissen, die Bestnote 2 wäre ideal für ein Stadtzentrum. Zudem habe ich die Behörden angefragt, ob sie uns die Namen der Eigentümer dieser Gebäude geben könnten. Nach einigem Zögern und Überzeugungsarbeit unsererseits haben wir die Namen erhalten. Es zeigt sich, dass zahlreiche, durchaus gutbetuchte Immobilienbesitzer, in besseren Gegenden der Stadt oder der Region wohnen und sich kaum mehr um ihre Gebäude in der Stadt kümmern. Sie begnügen sich oft damit, irgendwelche Discountläden oder dubiose Firmen als Mieter zu akzeptieren. Diese Entwicklung bedeutet den Untergang für eine Innenstadt. Man muss die Immobilienbesitzer dazu ermutigen, sich für die Stadt zu engagieren. Der Politik sind in diesem Fall die Hände gebunden. Es muss eine visionäre Initiative, eine Bewegung entstehen, damit es für diese Grundeigentümer unumgänglich wird, eine attraktive Innenstadt mitzugestalten.
Müsste man nicht aktiv auf diese Immobilienbesitzer zugehen?
Die einzige Möglichkeit wäre Transparenz, wie vor 100 Jahren. Man müsste die Namen der Besitzer auf dem Hausindex versehen. So wüsste man, welches Haus wem gehört und fordert diese dezent auf, aktiv zu werden. Das perfide ist ja, dass sich manche von denen als Kunst- und Kulturförderer ausgeben, in Wahrheit aber ihre eigene Stadt ausbluten lassen. Es sollte sich niemand mehr verstecken können, sondern es muss eine entsprechende Diskussion und eine Bewegung entstehen.
Sie haben erwähnt, dass der Stadt die Hände gebunden sind. In welcher Form könnte sie aber dennoch zu einer Attraktivierung beitragen?
Ideal wäre natürlich, wenn das städtische Land im Baurecht abgegeben würde, was im Stadtzentrum allerdings nicht mehr möglich ist. Dann gehört der Boden der öffentlichen Hand und diese kann aktiv bestimmen, was damit geschieht. Zudem kann sie die Mietpreise steuern. Diese sind immer noch viel zu teuer. Attraktive Shops haben keine Chance, sich in der Innenstadt einzumieten. Und ohne entsprechende Läden oder diesen attraktiven Mix, welchen wir in der Europaallee beobachten, kann eine Innenstadt nicht aufleben. Ganz wichtig ist auch dieser Pop-up-Gedanke, dass man temporär einen Shop mieten kann, welcher die alten Strukturen durchbricht und ein attraktives Angebot schafft. In der Bieler Altstadt ist dies zum Teil bereits vorhanden. Auch weil das Gebiet durch verschiedene Massnahmen, auch von Privaten, attraktiviert wurde und die Mietpreise zahlbar sind. Dies muss in der Innenstadt ändern. Und ich hoffe, es wird bald passieren. Dass der Immobilienbesitzer sein Gebäude mit dem Shop im Parterre finanzieren kann, funktioniert heute nicht mehr.
Und was können Private tun, Ladenbesitzer, Kleinunternehmer?
Auch mal etwas zu wagen, ins Risiko zu gehen. Jedes Projekt ergibt wieder neue Ideen, neue Möglichkeiten. Wichtig ist, dass man Neues versucht, sich etwas traut. Diese «try and error» Mentalität muss man wieder fördern. In der Altstadt haben sich etliche solcher Vorhaben als erfolgreich erwiesen, wie der Chocolatier, der Käseladen und noch etliche andere. Aber wie erwähnt, sind das Problem die Mietpreise der Ladenlokale in der Innenstadt. Darum: Man sollte Transparenz schaffen und die Immobilienbesitzer in die Pflicht nehmen.
Ganz konkret, wo könnte die Stadt jetzt mit gutem Beispiel vorangehen?
Es gibt ein sehr interessantes Gebäude der Stadt, welches eigentlich für eine Umnutzung prädestiniert wäre: das Kontrollgebäude am Zentralplatz. Dies wäre ein Leuchtturmprojekt und würde Bewegung in diese Sache bringen. Stellen sie sich vor, man würde das Erdgeschoss und das 1. Obergeschoss umnutzen und öffentlich zugänglich machen. Geschichtlich war das Gebäude die Edelmetall-Kontrollstelle der Uhrenindustrie. Daher ist es ein so mächtiges, prachtvolles Haus. Man müsste nur das seltsame Zwischengeschoss, welches in den 70er-Jahren eingebaut wurde, wieder rausnehmen. So hätte man eine fünf Meter hohe Eingangshalle, direkt am Zentralplatz, mit Terrasse und Wasserspiel. Dort könnte etwas entstehen.
Die Gondelbahn bildet das Kernstück unserer Vision, welche der Stadt unter anderem ermöglichen soll, sich neu zu entwickeln und zu vernetzen. Was halten Sie von dieser Idee?
In Biel macht es Sinn, in die Höhe zu denken. Denn drei Meter in der Tiefe befindet sich schon das Grundwasser, kein Fels, kein fester Boden, nichts. Alles was man baut, versäuft buchstäblich. Das heisst, dass unterirdisches Bauen in Biel kaum Sinn macht. Betrachtet man diesen Aspekt, liegt die Lösung wohl tatsächlich in der Luft. Ich finde zudem, dass man ein neues System für die vielen Busse in der Innenstadt finden sollte. Die momentane Situation passt kaum mehr. Auch weil das Fahrleitungssystems sehr viel Raum einnimmt und die Busse sehr unflexibel macht. Von daher macht eine neue Lösung in unserer Stadt Sinn. Da kommt mir der Solothurner Architekten Fritz Haller in den Sinn, welcher von Möbel über Stadtplanung, bis Raumfahrt alles entwickelte. Er hatte vor vielen Jahren unter dem Namen «Biel 2000» eine Studie gemacht, im Auftrag der Stadt. Nebst anderen Ideen und Visionen beinhaltet diese Studie auch eine Hoch- und Schwebebahn über die Schüss.
Wäre es in Biel machbar, den Privatverkehr sowie die Busse aus der Innenstadt zu verbannen, damit neuer Lebensraum für die Öffentlichkeit entstehen kann?
Wenn man die Autos aus dem Zentrum nimmt, braucht man natürlich ein anderes Erschliessungskonzept. Aber da habt ihr ja mit den Gondeln und den dazugehörenden öffentlichen Verkehrswegen einen entsprechenden Vorschlag. Ich hätte eine Idee, welche so schon in zahlreichen Städten weltweit realisiert wurde: Leerstehende Gebäude am Stadtrand in Parkhäuser umfunktionieren. Dadurch entlastet man die Innenstadt. Zudem wäre es ein rentables Modell und würde die Gelegenheit bieten, diese Gebäude äusserlich attraktiv zu gestalten, wie zum Beispiel durch Kunst am Gebäude. Man muss die Leute wieder in die Innenstadt bringen. Ohne dass sie im Stau stehen und Parkplätze suchen müssen. Nur so kann man mit dem Angebot der Einkaufszentren mithalten.
In unserer Vision ist der Hub der Gondelbahn beim Bahnhof. Macht das Sinn?
Absolut, die Seilbahn sollte vom Bahnhof aus starten. Dieser dient bereits als Hub des öffentlichen Verkehrs, hat die höchste Frequenz und bietet zudem ein Park & Ride. Sobald der Innovation Park steht, wird auch die Gegend des Robert-Walser-Platz aufgewertet. Wenigstens hoffe ich das. Dort müsste eine Art Allee entstehen, auch mit der Absicht, den See besser zu erschliessen. Meiner Meinung nach müsste im Bereich Schlosspark, Dispo und Expo-Gelände eine grosse parkähnliche Anlage entstehen, damit der See mit dem Schloss verbunden ist. Zwischen diesem Park und dem Bahnhof entwickelt sich mit dem Campus eine interessante, urbane Zone, mit einer besseren Verbindung vom Bahnhof zum See. Da würde auch der Seilbahn-Hub perfekt reinpassen. Euer Vorschlag mit der direkten Verbindung zur Tissot Arena finde ich ideal, so haben wir eine attraktive, schnelle und ökologische Verkehrslösung. Im Industriequartier in Bözingen würde die Seilbahn sowieso ideal hinpassen.
Der Stadtverkehr in Biel braucht neue Lösungsansätze, wie beurteilen Sie die momentane Lage?
Verkehrstechnisch wurde Biel seit jeher schlecht behandelt vom Kanton. Einer Kantonshauptstadt würde eine solche Verkehrsplanung kaum zugemutet. Da ist einerseits die Aarbergstrasse, über welche sämtlicher Verkehr zwischen Bern und Neuenburg fährt. Dann haben wir den Damm der Eisenbahn, welche in den Jura führt und die Stadt vom See abschneidet. Dazu muss man allerdings wissen, dass dieser Damm ursprünglich zum Schutz der Stadt gegen das Hochwasser erbaut wurde. Dies ist nun Geschichte und beim «Viadukt» in Zürich sieht man, was daraus entstehen könnte. Es muss eine Durchgängigkeit geben, eine neue Attraktivität. Diesen Zugang zum See sollte man unbedingt bewerkstelligen.
Die Überbauung «Agglolac» hätte ein Zugang zum See sein sollen, wurde aber von den benachbarten Städten Biel und Nidau kürzlich politisch begraben. Wäre eine entsprechende Überbauung sinnvoll? Biel ist doch an sich schon eine Stadt am See mit zahlreichen Wasserläufen, welche die City durchqueren.
Das ist korrekt. Bevor man eine solche Überbauung plant oder gar baut, sollte man für das betroffene ehemalige Expo-Gelände am See eine parkähnliche Anlage für die öffentliche Nutzung in Betracht ziehen und diskutieren. Eine Art Central Park, wo auch Events und sportliche Aktivitäten möglich wären. Andererseits könnte man das Potential der Innenstadt, also die vorhandenen Wasserwege, besser nutzen. Der obere Schüsslauf bei der Altstadt, welcher unter der Kanalgasse durchläuft, ist zum Beispiel komplett zugedeckt. Den könnte man freilegen. Aber da tut sich die Stadt schwer, verschiedene entsprechende Vorhaben sind in der Vergangenheit gescheitert. Zum Teil auch wegen privatem Widerstand und entsprechenden Besitzverhältnissen. Auch beim unteren Schüsslauf, im Bereich des Schnyder Areal, ist der Wasserlauf zugedeckt oder zumindest so verbaut, dass man ihn nicht mehr wahrnimmt. Wer diese Wasserläufe nicht aktiv sucht, sieht sie nicht. Obwohl sie mitten durch die Stadt laufen. Nur schon diese drei Schüss-Arme verfügten über ein immenses Potential für Naherholungsgebiete im städtischen Raum. Man müsste ihnen nur eine grössere Präsenz einräumen oder sie freimachen.
Wie sieht es mit den offenen Wasserläufen aus, welche in Biel nicht erlebbar sind? Könnte man auch diese umgestalten und für die Bevölkerung zugänglich machen, so wie bei der Schüssinsel?
Da sehe ich leider keine Möglichkeit. Solche Vorhaben wird der Kanton ablehnen wegen der Hochwassersituation. Der Schüsspark ist allerdings ein gutes Beispiel, wie eine Innenstadt am Wasser aussehen kann. Dort ist das Wasser deutlich erlebbarer geworden, ist Teil des Stadtbildes. Auch wenn dies am Oberen und Unteren Quai baulich nicht möglich ist, könnte man diese zwei Bereiche doch auch attraktiveren. So haben wir vor etlichen Jahren zusammen mit einem französischen Lichtplaner vorgeschlagen, den Wasserlauf zu beleuchten, damit man ihn wahrnimmt. Die Beleuchtung von urbanen Zonen in der Nacht hat ein enormes Potential. Und würde die unattraktive städtische Beleuchtung deutlich aufwerten. Eine weitere Massnahme wäre die Aufhebung von Parkplätzen entlang der Schüss, um diesen Raum anders, attraktiver nutzen zu können, im Sinne der Bevölkerung. Diese Massnahmen wären auch finanzierbar. Das grösste ungenutzte Potential für sommerlichen Badespass bestünde allerdings an der Aare bei Nidau. Zwar ist sie im Sommer voller Wassersportler, Gummiboote etc., aber beide Ufer sind praktisch durchgehend privatisiert durch die Bootsplätze.
Welche Stadtgebiete könnte man auch noch entwickeln?
In Biel hat es allgemein viel Industriegebiet und unverbaute Zonen wie den Güterbahnhof, welche ein enormes Entwicklungspotenzial bieten. Man könnte urbane Situationen schaffen, die Vermischung der Bevölkerung und Kulturen fördern. Diese Gebiete zu entwickeln wäre sehr interessant und würde neuen, attraktiven Wohnraum schaffen. Zudem macht dies auch mehr Sinn als freie Flächen am See zu verbauen. Auch das Bözingenfeld hat als Industriegebiet noch ein enormes Entwicklungspotenzial. Über die nächsten Jahre werden dort tausende Arbeitsplätze geschaffen. Und die Tissot Arena hat eine schweizweite Ausstrahlung. Ein Seilbahn-Hub beim Stadion mit diversen Verbindungen empfinde ich als sehr interessant. Heute fährt kaum jemand dorthin, um Essen zu gehen oder in den Ausgang, ins Kino etc. Mit der Seilbahn, welche pausenlos fährt, könnte sich diese Situation ändern. Dies würde auch der Tissot Arena eine neue Chance bieten. Die Seilbahn wäre also gewissermassen ein Booster für die weitere Entwicklung des Gebiets mit der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Daher unterstütze ich es, wenn hier eine Vision geschaffen wird, welche in die Zukunft weist. Es wäre wünschenswert, dass die Stadt und die Industrie solche Ideen unterstützen.